Liebe Sylterinnen, liebe Sylter, liebe Inselfans, liebe Gäste, liebe Merrets,
ein neues Jahr ist wie ein weißes Blatt Papier, das mit Geschichten von Glück, Erfolg und positiven Überraschungen beschrieben sein will. Aber selten begann ein neues Jahr auf Sylt so erschütternd wie dieses 2023, von dem wir uns nun verabschieden. Es startete mit einem Schock, dessen Auswirkungen bis heute spürbar sind. Die Insel verlor zum Jahresbeginn eines ihrer ältesten Häuser, den 200 Jahre Alten Gasthof in List. Eigentümer und Insulaner Andreas Kammholz riss das historische Gebäude ohne Genehmigung nieder, während Bürgermeister Benck hilflos daneben stand. Selten hatte man so viele empörte Insulaner auf einem Haufen gesehen. Fünfhundert Menschen nahmen an der Mahnwache teil, zu der Merret und andere Institutionen aufgerufen hatten. Bürgermeister Benck versprach, Andreas Kammholz würde dieser Frevel teuer zu stehen kommen, und er sicherte auch zu, der Alte Gasthof werde wieder aufgebaut. Zwölf Monate später kann man sagen: außer Spesen nichts gewesen. Kammholz baut dort unbeeindruckt und wie geplant seine Ferienwohnungen. Von den 500.000 Euro Strafe sind lediglich 30.000 übrig geblieben. Da greift die alte Sylt-Routine: Schwamm drüber!
In friesischer Trauertracht Ute Häßler, rechts Maren Jessen vom „Sölring Foriining“
„Schwamm drüber“ hieß es auch, als Sylt zum ersten Mal erleben musste, was der Rest der Republik nahezu täglich aushalten muss: die „Letzte Generation“ kam zu Besuch und brachte viel orange Farbe mit. Trotz abschmelzender Polkappen und steigendem Meeresspiegel hatte Sylt wenig Verständnis für die Aktivisten mit ihren Farbeimern. Die Bilder waren spektakulär und brachten der „Insel der Schönen und Reichen“ wieder bundesweit kostenlose, dennoch zweifelhafte Werbung. Begossene Privatjets, eine poppige Dior-Boutique, die zerstörte Bar vom Hotel Miramar, der ruinierte Rasen vom Golfplatz Budersand, die „Letzte Generation“ langte richtig hin (http://tinyurl.com/6j3fwbfr) Es war die bittere Konfrontation mit einer Realität, von der man auf Sylt in der Regel verschont bleibt. Dabei könnten sich die Aktivisten künftig die Anreise sparen und die Insulaner locker punkten, wenn sich noch viel mehr Sylter Betriebe nachhaltiger und umweltbewusster aufstellen würden und sich zum Beispiel für das Sylter Nachhaltigkeitssiegel qualifizieren. Wie das geht? Hier entlang. https://www.sylt.de/lebenswert Dann wäre die Insel in Deutschland tatsächlich wieder „ganz oben“ und könnte sein Versprechen, ein Naturwunder zu sein, auch nachhaltig einlösen. Wenningstedt hat es bereits vorgemacht und sich offiziell zu den 17 UN-Nachhaltigkeitszielen bekannt. Vorbildlich. Und hoffentlich ist das mehr als nur Marketing!
Überhaupt. Wenningstedt-Braderup verdient für 2023 definitiv eine besondere Erwähnung. Nicht nur wegen ihres tatendurstigen neuen Bürgermeisters Kai Müller. Die neu gewählte Gemeindevertretung verfolgt einen zukunftsweisenden Ansatz und bindet bei ihren Entscheidungen auf beispielhafte Weise die eigene Bevölkerung ein. Zwei Einwohnerversammlungen in Wenningstedt haben im August und im Oktober zahlreiche Ideen für die Zukunft der Sylter Gemeinde hervorgebracht. Die Bereiche Verkehr, Tourismus, Klimaschutz und Wohnraum werden mit Bürgerbeteiligung neu aufgestellt. Wenningstedt-Braderup ist auf Sylt ganz weit vorne. Daran kann man sich wirklich ein Beispiel nehmen. Da werden wir in 2024 noch einiges hören. Hoffentlich bleibt das Team mutig und stark. Schließlich hat es das „Projekt Hotel Windrose“ geerbt, das mittlerweile zum Symbol des Bürgerwiderstands geworden ist und das wie so viele Großprojekte die richtige Balance zwischen den Zielen der Investoren und der Gemeinde schaffen muss.
Zurückgefallen, oder besser gesagt, noch weiter zurückgefallen ist in diesem Jahr wieder das Herz der Insel: das Nordseebad Westerland. Dort wird immer noch diskutiert. Wie schon 2022, 2021, 2020, 2019 und so weiter. Viele, viele Jahre. Innenstadt modernisieren? Verkehrsproblem lösen? Fahrradweg bauen? Vielleicht sollte man es mal wie Wenningstedt versuchen und die Bürger mit einbeziehen? Mit professionell begleiteten Bürgerbeteiligungsverfahren wäre das mal was anderes. Den Schwarzen Peter zwischen Verwaltung, ISTS, Politik und Sylter Unternehmern hin- und herschieben, funktioniert jedenfalls nicht. Das wussten die Sylter bereits, bevor das scheidende Jahr Fahrt aufnahm. Vielleicht 2024? Drücken wir die Daumen, dass die teilweise neu gewählten Gemeindevertreter mehr Druck machen, um die anvisierten Ziele auch zu erreichen.
Zu diesen Zielen gehört das Dauerthema Multipark. Das Projekt wurde verzögert und verschleppt, hoffentlich nicht, bis die Initiatoren selbst alt und zahnlos sind. Der Boden der Tatsachen ist hart. Der Multipark kommt und kommt nicht voran. Er ist zwar genehmigt, aber irgendwas ist ja bekanntlich immer. Die Boomer wollen ihn einfach nicht. Sie wollen ihre Ruhe. Und die Boomer – Jahrgang 64 und älter – sind und bleiben nun mal zahlenmäßig die meisten. Auch das ist Demokratie.
Das alles überstrahlende Thema 2023 war jedoch der einstimmige Beschluss der Gemeinde Sylt, das „Beherbergungskonzept“ umzusetzen (http://tinyurl.com/4u6vufxd). Diese Entscheidung ist definitiv etwas für die Geschichtsbücher. Kein Wunder, dass dieses Konzept auch auf dem Festland und im übrigen Bundesgebiet Karriere macht. Es war zur Analyse des besorgniserregenden Ist-Zustands längst überfällig. Damit haben die Sylter Kommunalpolitiker nun endlich ein funktionierendes Instrument in der Hand, um das Zupflastern der Insel mit Ferienapartments zu beenden. Und an dieser Stelle sei noch einmal ganz, ganz kurz zusammengefasst, was sich mit dem Beherbergungskonzept ändert: Es sind nicht mehr die Investoren, die entscheiden, was sie wo bauen wollen und das mit ihren Anwälten auch durchsetzen, sondern die Gemeinde Sylt dreht den Spieß jetzt um. Künftig entscheidet die Politik, was an welcher Stelle wie gebaut werden soll. Ob Dauerwohnen, Ferienwohnen oder Zweitwohnen. Um das auch so umsetzen zu können, müssen nun jedoch die Bebauungspläne geändert werden. Und das ist richtig Arbeit und kann länger dauern, denn auch im Rathaus herrscht Personalmangel.
Apropos Personalmangel. Das ist ein weiteres Giga-Thema in 2023 auf Sylt. Natürlich nicht nur hier, sondern überall in der Republik. Doch hat die Insel im Wettbewerb um die besten Kräfte leider einige, zusätzliche und sehr gravierende Standortnachteile. Die Bahn funktioniert nicht. Nicht. Nicht. Nicht. Immer noch nicht. Man hat die Hoffnung längst aufgegeben. Wer, statt mit der Familie gemütlich beim Abendbrot zu sitzen, seit einer Stunde in Keitum im Regen steht und auf einen Zug wartet, der einfach nicht kommt, wird früher oder später eine gut bezahlte Stelle auf dem Festland annehmen. Denn die suchen dort auch händeringend Personal. Und wer schon mal für eine Wohnung auf Sylt unterm Dach für 19 Quadratmeter (Fußleistenmaß) mit undichtem Veluxfenster und fleckigem Veloursteppichboden 800 Euro Warmmiete bezahlt hat (in Hörnum!), wird auf Sylt nicht glücklich. Und wer jünger ist und auch gern mal ausgeht, wird sich fragen: Wohin eigentlich? Überall nur Silver Surfer und no Cringe Slayer. Nee, Sylt ist auch in 2023 nicht uptodater geworden.
Zu den wirklich guten Nachrichten in diesem Jahr gehört, dass neben der Kommunalpolitik, auch Bürgernetzwerke helfen können, bessere Politik zu machen.