(Pressse-)Mitteilung an den Wirtschaftsminister SH, Claus-Ruhe Madsen, anlässlich seines Syltbesuches Mitte April 2024:
Lösungen für Sylt sind Lösungen für Schleswig Holstein
wenn verlorener Wohnraum plötzlich wieder zu haben ist, bekommt der Lebensraum eine neue Chance
Ausgangssituation: Sylt hat kein kleines Zipperlein, sondern steckt bis zum Hals in einer Funktionskrise. Oder, um im Bild zu bleiben: Sylt leidet an einer fortschreitenden Erkrankung: dem Übertourismus. Das ist – wie beim Weltklima – keine Propaganda, sondern Fakt und bringt eine ganze Reihe negativer Folgen und Herausforderungen für die Inselbewohner*innen mit sich.
Fakten: Offiziell sieben Millionen Übernachtungen bei 18 000 Einwohnern, ergibt für Sylt einen Bettenindex (388), der neunmal höher ist als auf Mallorca(49), viermal höher als auf Rügen(100). Das alles bei einer sechsunddreißig und zehnmal kleineren Inselgröße.
Die Sylter Bevölkerung hat seit 2011 kein nennenswertes Wachstum zu verzeichnen und das bei einem um 15% gesteigerten Wachstum im Bausektor. Die Zusammenhänge zwischen den Problemen Wohnraum- und Fachkräftemangel, Überlastung der Infrastruktur, kulturelle Verödung und touristische Übernutzung sind mittlerweile in großen Teilen der Bevölkerung und der Tourismuswirtschaft angekommen.
Auf der Seite der Lösungsansätze sind Begriffe wie ökologische, ökonomische und soziale Tragfähigkeit, Tourismusakzeptanz und Partizipation keine Fremdwörter mehr. Eine übergreifende Sichtweise, sowie ein tieferes Verständnis für die gegenseitige Abhängigkeit der Problemkreise, hält auf Landesebene langsam aber stetig Einzug ins politische Handeln. All diese Inhalte haben Berücksichtigung in der Tourismusstrategie SH 2030 gefunden. Die „Versylterung“ oder auch „ Syltrifizierung“ diente leider für dieses langsame Umdenken und Handeln allzu oft als mahnendes Negativbeispiel.
Der baurechtliche Aspekt jedoch, der die Übernutzung der Insel erst möglich gemacht hat, ist erst seit kurzem durch die Kontrollen des Kreisbauamtes Nordfriesland an die Öffentlichkeit gekommen und fördert das Ausmaß einer Tragödie zu Tage.
Mangelndes politisches Bewusstsein für die Bauleitplanung zur Schaffung von Nutzungsrechten und eine dadurch bedingte, jahrzehntelange Nichtkommunikation in die Bevölkerung, sowie die extreme Ausnutzung der Duldung von baurechtlichen Vergehen, haben zu vermutlich mindestens 30 Prozent ungenehmigten Feriendomizilen auf Sylt geführt. Diese sind von Rechts wegen nicht länger touristisch nutzbar.
Angesichts der über viele Jahre komplizierter gewordenen, baurechtlichen Lage gibt es keine einfachen Lösungen mehr für die entstandene Situation. Dies gilt womöglich nicht nur für Sylt, sondern auch für andere Tourismusdestinationen im Norden.
Dieses große, kommunalpolitische Planungsversäumnis löst nun eine weitere Krise aus:
Kleinexistenzen, Renditeinvestitionen aber auch große Geschäftsmodelle kommen ins Wanken. Sprengstoff für eine Gesellschaft.
Herausforderungen für die Politik: Tourismuspolitik muss kommunale Bauleitplanung mitdenken. Eine politische Rettungsstrategie muss her, auch wenn sie komplex ist und die Uhr auf kurz vor zwölf steht.
Um Sylt in eine gute Zukunft zu führen, brauchen wir Dialog für einen insularen Schulterschluss und die Unterstützung der Landespolitik. Um den Tourismus in eine gute Zukunft zu führen, braucht es die Definition und Anerkennung einer touristischen Tragfähigkeitsgrenze in den Natur- und Lebensräumen, die durch Bauleitplanung abgesichert werden muss.
Dialogwerkstatt – „Insularer Bürgerrat 2025“
Handlungsfeld 1: Für ein ernsthaftes Bemühen um nachhaltige Entwicklung auf ökonomischer, ökologischer und sozialer Ebene hat sich für Sylt plötzlich wieder ein Zeitfenster geöffnet.
Das Bürgernetzwerk möchte in dieser gesellschaftlichen Krisensituation, die sich durch Ratlosigkeit hohes Konfliktpotenzial und niedrigen Wissensstand um den Sachverhalt auszeichnet, einen Beitrag zur breiten, politischen Meinungsbildung leisten. Wir glauben, dass eine gute Beteiligung und aktive Bürgerschaft die gesellschaftliche Entwicklung auf Sylt verbessert. Dazu möchten wir mit dem „nexus – Institut“ einen „ insularen Bürgerrat 2025“ durchführen.
Wunsch: Unterstützung des Ministers durch seine Unterschrift unter das offizielle Anschreiben an die zufällig ausgelosten Ratsteilnehmenden. Dies würde dem Dialogprojekt einen offiziellen und wertschätzenden Rahmen geben. Zudem wäre es auch ein Engagement für die Inhalte von Handlungsfeld 9 der Tourismusstrategie SH 2030: „Tourismusbewußtsein- und Akzeptanz“.
Evaluation und Begleitung – „Auf neuen Wegen“
Handlungsfeld 2: Mit unserem Wunsch nach einem Bürger-Dialogprozesse aber auch zur Entwicklung und Anwendung eines Tragfähigkeitskonzeptes für Sylt stoßen wir bei Dozent*innen der FH Westküste in Heide auf offene Ohren. Wir streben eine Zusammenarbeit an.
Wunsch: Wir würden uns über Hinweise aus dem Ministerium auf mögliche finanzielle Unterstützung dieser Zusammenarbeit freuen.
Handlungsfeld 3: Wir begrüßen die Einrichtung des Kompetenzteams TA:SH zur Umsetzung der Tourismusstrategie SH 2030, da Marketing und Meinungsumfragen in Zukunft vor Ort nicht mehr ausreichen. Es braucht eine Hinwendung zu den Leistungsträgern der Tourismuswirtschaft – der bisher vernachlässigten Stakeholdergruppe: den Einwohner*innen der Destination. Kommunikations- und Partizipationskonzepte werden in Zukunft wichtig sein und sollten geübt, optimiert und implementiert werden.
Wunsch: Eine Einbindung des Kompetenzteams zur Unterstützung und Stärkung des Handlungsfeldes 9 der Tourismusstrategie SH in das Projekt „Bürgerforum Sylt 2025“.
Tourismus braucht Bauleitplanung für „Destinationsmanagement“
Handlungsfeld 4: Wir sehen in der Krise eine deutliche Chance: Über Jahre hinweg zweckentfremdeter oder verlorener Wohnraum kann aus dem Bestand zurückgewonnen werden. Dazu müssen die Sylter Gemeinden nun alle planungsrechtlichen Werkzeuge im Sinne der sozialen Tragfähigkeit und des Klimaschutzes in den Bebauungsplänen anwenden.
Wunsch: Es braucht von Seiten des Landes juristische und fachliche Unterstützung um den Altbestand, der vor Änderung der Baunutzungsverordnung im Jahre 2017 genehmigt wurde, zu bewahren. Es gilt für tausendfach, durch Umbau oder Feriennutzung verwirkte Ursprungsgenehmigungen und den dadurch drohenden Abriss, eine Lösung zu finden. Dies gebietet sowohl die Wirtschaftlichkeit als auch die Nachhaltigkeit.
Es braucht von Seiten des Landes eine Kampagne zu mehr Bewusstsein in der Kommunalpolitik für ein umfassendes Destinationsmanagement.
Perspektivwechsel – „die Zeit ist reif“
Handlungsfeld 5: Unsere Hoffnung auf Lösungen kann nicht mehr allein bei Politik liegen, die sich oft auf Druck wirtschaftlicher Verbänden ausgerichtet hat. Die Denkweise, die uns in diese Krise hineingeführt hat, gibt keinen Anlass zur glauben, dass sie uns aus dieser auch wieder herausführt. An den Verhandlungstisch gehören nun auch Sozialverbände, Naturschutz, Kirche und Gemeinwohninitiativen! Es geht darum, für SH eine ökologisch- und sozialverträgliche Strategie zur Destinationsentwicklung mit neuen Parametern und Werten für „touristischen Erfolg“ zu erarbeiten. Dieser sollte dringend unter der Berücksichtigung aller gesellschaftlichen und nicht nur wirtschaftlichen Belange stattzufinden.
Wunsch: Wir möchten an dieser Zukunft mitwirken.
Handlungsfeld 6: Eine städtebauliche Rahmenplanung für alle touristischen Gemeinden ist eine Notwendigkeit. Seit der Veröffentlichung zeigt sich, dass das Beherbergungskonzept der Gemeinde Sylt in seiner statistischen und beratenden Aussagekraft und als städtebauliches Entwicklungskonzept vorbildlich ist. Im Austausch darüber mit vielen Kommunen und Initiativen möchten wir den Minister anregen, dies dringend für Tourismusdestinationen in SH einzuführen. Ein Beherbergungskonzept nach dem Sylter Beispiel könnte jeder touristischen Gemeinde Auskunft über den Stand ihres Gleichgewichtes geben. Es hat großes Potenzial, die Grundlage für eine konzeptionellere Lebensraum- bzw. Destinationsentwicklung in SH zu liefern, als wir es derzeit erleben.
Wunsch: Viele der kleinen Gemeinden brauchen finanzielle Unterstützung durch das Land SH für Studien, Gutachten und Evaluation: -Beherbergungskonzept, Wohnraumentwicklungskonzept für Lebensraumpolitik. ( Beispiel: Innenministerium hat ein Konzept für Innenstadtentwickelt aufgelegt „begleitete Förderung und Evaluation“)
Handlungsfeld 7: Es ist anzunehmen, dass die katastrophale, baurechtliche Situation der Sylter Feriennutzung bei weitem kein Einzelfall, sondern beispielhaft und symptomatisch für ehrenamtliche und damit nicht immer professionelle Kommunalpolitik ist. Bei den hohen, tourismuswirtschaftlichen Ambitionen des Landes braucht dieser Sachverhalt eine landespolitische Aufarbeitung im Landtag.
Wunsch: Bei den vielen bestehenden Bildungsangeboten ist eine niedrigschwellige Schulung für Kommunalpolitiker über die Grundlagen der Bauleitplanung sehr wichtig.
Handlungsfeld 8: Ein wirkungsvolles Zweckentfremdungsgesetz/Wohnraumschutzgesetz könnte sofort auf den Weg gebracht werden. Die Verwaltung vor Ort muss mit einem solchen Gesetz befähigt sein, die Umsetzung der darin festgelegten Schutzmaßnahmen für Dauerwohnraum auch selbst zu kontrollieren und ggf. mit Ordnungsgeldern zu sanktionieren. Der Dauerwohnraum im Bestand muss aus der Zweitwohnungsnutzung zurückgewonnen und umfänglich geschützt werden können. Viele Bundesländer haben schon lange reagiert. In unserer Nachbarschaft hat Hamburg ein Wohnraumschutzgesetz, Niedersachsen sein Zweckentfremdungsgesetz verabschiedet. (Zuletzt gewann Berlin 30 000 Wohnungen durch seine neue Gesetzgebung für den Wohnungsmarkt zurück). Entstehende Zweitwohnsitze verbrauchen große Energiemengen für nur zeitweise genutzten Wohnraum.
Zitat: „ Mit einem „Neuen Sylter Weg“ kann das Land einen Perspektivwechsel im heimischen Tourismus vollziehen.“
Birte Wieda – Bürgernetzwerk „Merret reicht´s – Aus Liebe zu Sylt“