„𝐒𝐲𝐥𝐭 𝐦𝐮𝐬𝐬 𝐝𝐞𝐫 𝐖𝐚𝐡𝐫𝐡𝐞𝐢𝐭 𝐢𝐧𝐬 𝐀𝐮𝐠𝐞 𝐬𝐞𝐡𝐞𝐧
Was passiert gerade auf dem Sylter Immobilienmarkt – und warum stehen hunderte Objekte zum Verkauf?
Im exklusiven Merret-Interview spricht Investmentbanker und gebürtiger Sylter Kristian Klasen offen über die neue Realität auf der Insel: über geplatzte Renditehoffnungen, über Crowdinvesting-Projekte mit Risiken, über politische Versäumnisse – und darüber, warum Dauervermietung die einzige tragfähige Perspektive für Sylt sein könnte. Ein Gespräch, das deutlich macht: Wer die Zukunft gestalten will, muss zuerst die Gegenwart verstehen. Jetzt lesen und mitdiskutieren.
𝐙𝐞𝐡𝐧 𝐅𝐫𝐚𝐠𝐞𝐧 𝐚𝐧 𝐊𝐥𝐚𝐬𝐞𝐧
Kristian Klasen (64), ein Profi in Sachen Geldanlage, hat knapp dreißig Jahre in Frankfurt bei verschiedenen Banken gearbeitet, kennt das internationale wie auch das deutsche Geschäft. Sein Kontakt nach Sylt ist nie abgerissen. Im Gegenteil: Den Immobilienmarkt und die Tourismusentwicklung auf seiner Heimatinsel hat er stetig aufmerksam verfolgt und analysiert. Inzwischen ist Klasen nach Sylt zurückgekehrt und hat sich in Wenningstedt „zur Ruhe gesetzt“. Seine Expertise setzt er nun unter anderem als Vorsitzender des Finanzausschusses in der Gemeindevertretung ein – und auch hier, im Merret-Interview:
1. Über Jahrzehnte hieß es „Sylt ist ein sicherer Hafen“ für Vermögenswerte. Gilt das auch heute noch?
Nach der Finanzkrise 2007/2008 gingen die Zinsen auf Talfahrt. Aktien wurden unattraktiver. Sylt wurde auf einmal für Investoren interessant, die Vermögen langfristig parken wollten. Die Knappheit von Grundstücken heizte den Boom noch an. Das war tatsächlich ein „Safe Haven“. Die Rendite stand bei vielen nicht einmal im Vordergrund. Hauptsache ich verliere nichts und habe nebenbei noch ein schönes Objekt – mit Wertsteigerungspotential. Da konnte man nichts falsch machen.
2. Die Zeiten haben sich geändert. Noch nie innerhalb der letzten fünfzehn Jahre waren auf Sylt so viele Immobilien auf dem Markt – hunderte Häuser und Wohnungen finden sich allein bei Immoscout – was ist passiert?
Der „Schwarze Schwan“ traf die ganze Welt. In der Finanzwelt nennt man das „die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse“. Zuerst kam Corona und löste auf Sylt einen geballten Nachfrageschub aus, den „Himmel auf Erden“. Und dann kamen kurz darauf gleich zwei weitere Hämmer – jetzt allerdings mit umgekehrten Vorzeichen: Ukraine-Krieg seit 2020 mit einsetzender zumindest deutschlandweiter Rezession – gepaart mit Kreisbaudirektor Jansen, der die klassischen Geschäftsmodelle in Frage stellt und damit wohl eine Marktbereinigung einleitet. Verkaufsgründe gibt es urplötzlich sehr viele: von erzwungener Auflösung eiserner Reserven des Mittelstandes bis zur ungenehmigten Ferienvermietung. Dazu die Verstopfung durch massenweise Neubauten aufgrund nicht erfüllter Marktprognosen und nicht zuletzt das Grundrauschen des auch auf Sylt einsetzenden Generationswechsels. Die Babyboomer trennen sich von ihrem Besitz.
3. Nach Ihrer Erfahrung: wann erreicht Sylt den Tiefpunkt der Marktpreise?
Positive Trends bei Vermögensklassen wie Aktien, Zinsen, Immobilien erkennt man meist erst langfristig. Die letzte Niedrigzinsphase dauerte etwas länger als 10 Jahre an. Schocks einerseits und langfristige Erholungsphasen andererseits lassen aus der Historie nichts Gutes für den Markt erwarten. Es hat 20 bis 30 Jahre gedauert, um auf das Rekordniveau der Sylter Immobilienpreise der Corona-Zeit zu kommen. Das jetzt erlebte Ausbluten könnte enden, sobald Deutschland aus der Rezession ist und die Konjunktur wieder besser läuft. Da müsste man nach Berlin schauen und hoffen. Ein Ukraine-Frieden könnte Wunder wirken – darauf hoffen offensichtlich viele Akteure hier.
4. Was ist davon zu halten, wenn die Sylter Rundschau immer wieder einseitig Marktanalysen einzelner Immobilienfirmen veröffentlicht, die alle immer von Aufwind sprechen?
Bodenpreise werden von den Gutachterausschüssen ermittelt und fortgeführt. Das sind gezahlte Preise, die wenig mit Angebotspreisen zu tun haben. Nur diese Statistik ist belastbar. Seriöse Analysen sollten sich auf Fakten stützen und nicht auf Wunschdenken der Angebotsseite.
5. Neuerdings werden auf Sylt Immobilienprojekte schon per Crowdsourcing finanziert, was bedeutet das?
Das ist sicherlich eine innovative Möglichkeit, selbst Kleinanlegern Zugang zum hiesigen Immobilienmarkt zu gewähren. Dabei investieren viele Anleger über eine Online-Plattform gemeinsam in ein Immobilienprojekt, wenn dem Initiator etwa Kredite oder Eigenkapital ungenügend zur Verfügung stehen. Hier gilt – wie bei allen nichtstandardisierten Anlageformen wie etwa bei geschlossenen Windparkfonds: Obacht und das Kleingedruckte lesen! Passen Rendite und Risiko zusammen? Wie hoch ist der mögliche Verlust? Nicht zuletzt sollte ich die Risikotragfähigkeit meines Gesamtportfolios betrachten, um im Notfall auch den Totalverlust verkraften zu können. Auf Sylt war das bislang unbekannt. Mir zeigt sich hier die mittlerweile prekär anmutende Lage der Finanzmittelbeschaffung beziehungsweise der Kapitaldecke einiger Bauträger.
6. Der Mangel an bezahlbarem Wohnraum ist auf der Insel mittlerweile ein soziales Problem. Gibt es aus Vermietersicht wirtschaftlich tragfähige Modelle, die die Umwandlung von Ferienimmobilien in Wohnimmobilien attraktiv machen?
Das Wunschdenken an die „eierlegenden Wollmilchsau“ war gestern: Ferienvermietung mit gleichzeitiger Eigennutzung und zusätzlicher Perspektive auf Wertsteigerung kennen nur noch Märchenerzähler – oder sehr wenige Menschen, die es sich wirklich leisten können. Der Aufwand bei der Ferienvermietung mit mindestens 20% Provision für den Vermittler, ständig neues Mobiliar, Internet, TV-Gebühren, Gärtner, pausenlos ansprechbar sein… dazu mitunter noch Zweitwohnungssteuer, das rechnet sich kaum mehr. Jedenfalls ist der Unterschied zur Festvermietung geringer als man denkt. Man muss das mal über zwölf Monate überschlagen, zumal immer weniger Objekte wirklich gut ausgelastet sind. Das Überangebot drückt erheblich auf die Margen. Die Euphorie des Geldverdienens mit Ferienimmobilien ist auf Sylt finanzieller Nüchternheit gewichen.
7. Welche Rolle spielt bei dieser Entwicklung die unsichere Genehmigungslage, Stichwort „illegale Ferienwohnungen“?
Dieser Schock kam mit Verzögerung. Seit 2023 hat sich der Sylter Immobilienmarkt zunächst langsam, jedoch zunehmend dynamisch komplett verändert. Inzwischen sind die einschlägigen Informationen zu jedem in der Republik verstreuten Eigentümer durchgedrungen. B-Plan, Baugenehmigung, Baujahr… alles das spielt urplötzlich eine Rolle. Die Verunsicherung ist riesengroß und sollte möglichst bald verschwinden. Viele versuchen die Reißleine zu ziehen – mit offensichtlich sehr optimistischen Preisvorstellungen, die – so wie ich denke – vielfach langwierig und schmerzhaft enttäuscht werden könnten. Da täte eine realistische Beratung mit einer Portion Common Sense gut. Nach meinem Eindruck wird an zu vielen Stellen versucht, künstlich ein Level aufrechtzuerhalten – in einer „übersinnlichen“ Einigkeit der Marktakteure. Keiner will als Nestbeschmutzer gelten und den Markt anerkennen wie er ist. Lieber übernimmt man das Mandat mit viel Schmerz und schlechtem Gewissen, statt Expectation Management zu betreiben, also allen Beteiligten realistisch aufzuzeigen, was Sache ist. Man muss der Wahrheit ins Auge sehen.
Wir brauchen Tourismus. Davon hängen wir seit mehr als 100 Jahren ab. In den Gründerjahren gab es zum ersten Mal einen echten Boom, gefüttert vom Aufschwung des wilhelminischen Zeitalters, von dem schon viele unserer Urahnen und zugereiste Glücksritter profitierten. Personalprobleme waren unbekannt. Die gab es nicht einmal nach dem deutschen Wirtschaftswunder. Alles okay bis in die 2010er Jahre hinein. Aber nun erleben wir die Auswirkungen der Marktübertreibung. Das Overshooting bedingt letzten Endes eine Neupositionierung und ein Umdenken.
Es wird etwas länger dauern, bis es in die Köpfe der Menschen geht, dass die Ferienvermietung nicht die Zukunft der Insel sein wird. Seien wir ehrlich. Was bleibt uns denn? Dauervermietung bleibt die einzig realistische Alternative. Es gibt – wie bereits immer schon – Pensionen, Hotels und nichtzuletzt genehmigte Ferienwohnungen, deren Zukunft zunehmend und jetzt auch nachhaltig von der Planung unserer Gemeinden abhängt. Warum soll die Ferienvermietung nach Abzug aller Kosten denn renditestärker als Dauervermietung sein? Die Zeit der Überrendite ohne jedes Risiko ist endgültig vorbei.
8. Und welche Rolle spielt dabei die Kommunalpolitik, die z.B. mit dem B-Plan 28 in klassischen Wohngebieten eher mehr Ferienwohnungsbau möglich macht als weniger?
In Wenningstedt arbeiten wir an einem Ortsentwicklungskonzept, welches das gesamte Gemeindegebiet umfasst. Die Blaupause des Gemeinde Sylter B-Plan 28 könnte theoretisch zwar in einem unserer mehr als zehn B-Plan-Gebieten Anwendung finden. Wir analysieren jedoch genau die aktuelle Bestandsituation für jedes Gebiet und versuchen zu gestalten, wie und wo Dauer-, Zweit und Ferienwohnen miteinander in Einklang zu bringen sind. Wir wollen weder Ghettos noch verwaiste Landschaften. Klar ist, dass wir es nicht jedem werden recht machen können. Aber wir werden die Probleme lösen.
9. Die Kreisverwaltung hat nun bei älteren Objekten (aus den 1960er und 1970er Jahren) ein wenig den Dampf rausgenommen und dort Bestandsschutz garantiert, wie viele Eigentümer können da überhaupt aufatmen?
Der Kreis schuldet noch eine genaue Handhabung der Umsetzung. B-Pläne wurden zumindest in Wenningstedt-Braderup erst ab den 80er Jahre etabliert. Die Baunutzungsverordnung sieht „Ferienwohnen“ erst seit 2017 vor.
Insofern muss genau geschaut werden, welche Objekte tatsächlich den Schutz genießen – oder ob es sich nur um einen Papiertiger handelt. Andererseits hat jeder zumindest einmal eine Orientierungshilfe. Mittelfristig werden jedoch in jedem Falle Objekte über die Klippe gehen, die den Brandschutzvorgaben nicht entsprechen und künftig z.B. nur noch zwei statt vier Personen beherbergen können.
10. Jede Krise birgt auch eine Chance – welche ist unsere?
Als Investmentfachmann sehe ich ein großes Potenzial, und ich wundere mich ernsthaft, dass das bislang noch niemand auf dem Radar hat: Politik und Interessenvertreter sollten den Fokus nicht wie bislang nur in Richtung Tourismus sondern auch hin zur Vermarktung unserer Insel als Lebensmittelpunkt richten. Das ist pures Gold. Neue Insulaner für die Insel! Die bringen Geld, Struktur und Kapazitäten mit. Die Welt hat sich in den letzten 20 Jahren dramatisch verändert. Internet, Krisen, Langlebigkeit… Alles vereinigt „Sylt“ als optimales neues Zuhause. Sylt hat für Zuzügler enorm viel zu bieten: viele spannende Menschen, vier Golfplätze, ein interessantes Kulturangebot, atemberaubende Natur, großartige Immobilien. Warum sollten wir nicht den dauerhaften Zuzug bewerben, anstatt ständig mit neuen Flugrouten auf die Insel aufmerksam zu machen, damit teure Leute für zwei Nächte einen Abstecher nach Sylt machen können? Demoskopie und Wohlstandswachstum sprechen für ein Leben auf dieser Insel. Neue Freunde und ein Leben „ab vom Schuss – aber mittendrin“ ist attraktiv für jedes Alter. Homeoffice geht überall.
In der Praxis hieße das für mich: „Sylt Marketing“ mit zusätzlicher Zielsetzung, Abkehr vom unseriösen „Sylter Maß“ bei der Wohnflächenangabe und bitte gelebter Realismus bei Immobilienvermarktung in Richtung Dauervermietung. Fassadenpreise müssen ein Ende haben. Wir machen uns selbst den Ruf kaputt. Dazu schnelle Umsetzung anzupassender B-Pläne im Rahmen Ortsentwicklung.
Was ist Ihr Résumé:
„Die Hoffnung stirbt zuletzt“. So zumindest scheinen alle relevanten Entscheidungsträger zu denken. Diese Denkweise ist derart dominant, dass sich keiner aus dem Pulk der Lemminge trennen will, um mit der langjährig erlebten Praxis zu brechen. Wie lange noch müssen wir damit leben?
Aber: Wie schon Margaret Thatcher 1988 verstand: „You can´t buck the Market!“* Dem kann sich keiner entziehen.
*Gegen den Markt kommt man nicht an.