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„Es reicht!“ – „Wer gibt uns eine Stimme?“- 1 Jahr Merret reicht´s

Vor einem Jahr machte Birte Wieda ihrem Herzen Luft. Das hatte Konsequenzen.

Birte Wieda

Ihr Leserbrief in der Sylter Rundschau – Nachrichten für die Insel Sylt führte zur Gründung des Bürgernetzwerks. Seitdem ist viel passiert.

Es war nur ein Leserbrief, aber der hatte es in sich. Vor einem Jahr, am 15. Juni 2020, machte die Keitumer Goldschmiedin Birte Wieda ihrem Herzen Luft, indem sie ihre Enttäuschung über einen Besuch des Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) auf der Insel Sylt in scharfe Worte fasste.

Birte Wieda kritisierte, dass der Regierungschef bei diesem ersten Besuch nach dreijähriger Amtszeit kein Ohr für die Bevölkerung hatte, sondern sich ausschließlich die Klagen einer „durch nichts legitimierten Abstimmungsrunde“ aus Wirtschaft, Marketing und ein paar Bürgermeistern anhörte, die nach zwölf Wochen Lockdown finanziellen Ausgleich forderte. Das brachte Birte Wieda auf die Palme, sie fühlte sich und ihr Umfeld nicht vertreten.
„Jetzt wissen wir Dank Corona wieder, was Ruhe ist, wie Stille Wunderbares in uns bewirkt und wie bezaubernd Leere sein kann“, schrieb sie damals. „Ich und viele andere wollen nicht mehr zu dem „Übervollen“ und zu dem „Zuviel“ zurück. Wir wollen es nicht für uns und nicht für unsere Gäste und Kunden!“
Birte Wieda forderte, endlich umzusteuern und das Wohl der Sylter Bevölkerung politisch wieder ernsthaft in den Blick zu nehmen. „Wer gibt uns überhaupt noch eine Stimme?“ fragte sie damals.
Diese Stimme ist mittlerweile sehr laut geworden. „Merret reicht’s – aus Liebe zu Sylt“ hat sich als Bürgernetzwerk auf der Insel etabliert. Ein Jahr nach diesem Leserbrief zieht Birte Wieda Bilanz.
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INTERVIEW
Frage: Der Leserbrief damals hatte es in sich und gleich darauf enorm viele Reaktionen ausgelöst. Was hat Sie damals so in Rage gebracht, dass das raus musste?

Wieda: Der Besuch des Ministerpräsidenten bei einer reinen Lobbyrunde, die auf Sylt – zunehmend an der Kommunalpolitik vorbei – den Kurs regiert. Wenn Wirtschaft und Tourismusmarketing ihre Standpunkte vertreten, kommt das Gemeinwohl der Bürger und die Natur oft nicht vor. Und genau so war es auch dieses Mal. Genauso haben es viele andere offensichtlich auch empfunden. Genauso läuft es seit Jahren auf Sylt. Vorher hatten wir im ersten Lockdown zum ersten Mal wieder umfänglich erfahren, was das Leben überhaupt lebenswert macht: Gemeinschaft und Natur. Und dann kam der Ministerpräsident und hörte sich das Gejammer der einschlägigen Wirtschaft an, die während Corona keine Geschäfte machen konnte. Dabei hatten wir alle gemeinsam Einbußen und Unsicherheit erfahren, aber auch einiges an Erkenntnis gewonnen.
Das hat mich wütend und sprachlos gemacht. Das entsprach überhaupt nicht meiner Wahrnehmung der Sylter Situation zu dem Zeitpunkt. Und auch nicht der jetzigen im Übrigen.
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Frage: Wie ging es dann weiter?

Wieda: Es gab unglaublich viel zustimmende Resonanz. Ich wurde geradezu überschüttet. Von Syltern, von Syltliebhabern, von Gästen. Weitere Leserbriefe, Telefonanrufe, Blumen, Besuche in meiner Werkstatt, viele Gespräche und dann Pläne. Ich habe sechs Wochen gewartet und jeden notiert, der sich gemeldet hatte. Als es nach den Wochen immer noch nicht aufhörte, habe ich mit einigen anderen beschlossen, dass dies ein Geschenk des Widerstandes ist und eine Chance auf Gestaltung einer verantwortungsvolleren Zukunft, das angenommen und entwickelt werden muss.
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Frage: Ein Jahr später, was haben Sie erreicht?

Wieda: Öffentlichkeit, Gemeinschaft, Aufmerksamkeit und Bewusstsein für unsere Not in allem Luxus. Es gibt ein aktives Bürgernetzwerk. Es gibt engagierte Mitstreiter und Mitstreiterinnen in verschiedenen Arbeitsgruppen, die sich um Verkehr, Tourismus, Bauwirtschaft und Bürgerbeteiligung kümmern. Es gibt Verbündete an Nord- und Ostsee. Es gibt einen Dialog bis hinein in die Ministerien und in den Landtag. Es gibt Offenheit und Neugierde. Und es gibt viel Unterstützung durch die Presse. Auch bundesweit. Aber es gibt auch Nackenschläge und üble Nachrede. Viel Feind, viel Ehr.
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Frage: „Merret reicht’s“ ist nicht die erste Bürgerinitiative auf der Insel, die sich mit den Auswüchsen des Tourismus und der Bauwirtschaft beschäftigt, was machen Sie anders?

Wieda: Anders sind heute vor allem die Möglichkeiten, Öffentlichkeit zu schaffen. Neue Medien schaffen Unabhängigkeit von Presseveröffentlichungen. Facebook und das Internet können gezielt zur Kommunikation und Information beitragen, so dass Gäste, Politik und Insulaner gleichermaßen auf den Stand gebracht werden.
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Frage: Wie unterscheidet sich Ihre Arbeit jetzt von der Sylter Kommunalpolitik, die Sie auch sehr gut kennen, weil Sie lange dort mitgearbeitet haben?

Wieda: Wir „Merrets“ können viel freier denken, uns überparteilich vernetzen, informieren und handeln. Überallhin Allianzen schmieden und unkonventioneller sein. Auch ein bisschen unberechenbarer sein.
Wir sind eine Art APO, außerparlamentarische Opposition. Ich möchte dabei betonen, dass wir nicht unlegitimiert sind! Das wird ja immer so gern gegen „Merret reicht’s“ ins Feld geführt. Wir sind die Wähler und Wählerinnen! Um uns geht es doch. Wir sind die, die sich – unzufrieden mit den Ergebnissen der Kommunalpolitik – in großer Zahl und überparteilich und gesamtinsular zusammentun. Gesamtinsular ist hier das Stichwort. Im Gegensatz zum kommunalpolitischen Gegeneinander von fünf Inselgemeinden, aber auch sich verselbständigenden Strukturen hier auf Sylt, behalten wir die Insel als Ganzes im Blick. Die Angesprochenen sind gut beraten, schon genau hinzuhören.
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Frage: Nach einem Jahr Initialzündung: gibt es Erkenntnisse, die Sie vorher nicht erwartet hatten?

Wieda: Ja, wie von allen guten Geistern wir Sylter Einwohner mit unseren Bedürfnissen derzeit im Gerangel um Geld, Macht und Interessen wirklich verlassen sind! Ich suche nach Unterstützung in der Politik auf Machtebene!!! Auf der kommunalen Ebene, aber auch auf Kreis- und Landesebene. Und wir müssen als Sylter endlich ein neues „WIR“ schaffen, wenn wir nicht zur reinen Folklore schrumpfen wollen.
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Frage: Was hat Sie am meisten frustriert?

Wieda: Das „back to normal“ im Moment… Niemand, der mit mir zurzeit das Gespräch sucht, möchte in das touristische Hamsterrad zurück, in dem wir vor Corona so viele Jahrzehnte drinsteckten. Die Einheimischen nicht und die Gäste auch nicht. Selbst die „Offiziellen Sylter“ aus Wirtschaft, Politik und Tourismus geben öffentlich zu Protokoll: wir müssen auf Sylt vieles ändern. Aber den Worten folgen nicht genügend Taten.
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Frage: Was hat sie am meisten gefreut?

Wieda: Dass die wirklich zugewandten und erfreuten politischen Kräfte, die schon lange in der Opposition unsere Themen auf Ihrer Agenda haben, sich nun für den Rückenwind bedanken und uns im Netzwerk natürlich hilfreich sind! Die vielen neuen Kontakte!
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Frage: Wie kann man bei Ihnen mitmachen?

Wieda: Übers Internet Kontakt aufnehmen, zum Beispiel über www.merret-sylt.de. Jeder, der die Insel liebt, ist herzlich willkommen, sich einzubringen! Es gibt viel zu tun und tolle Leute kennenzulernen.
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Frage: Was sind Ihre nahen Ziele? Was sind Ihre fernen Ziele?

Wieda: Das nahe Ziel: uns noch mehr Gehör in Kiel zu verschafften zusammen mit den Leuten von den anderen Inseln und dem Festland, die auch sagen: Uns reicht`s! Das sind überraschend viele.
Als ferneres Ziel: wir wollen die politischen Mehrheiten bei der nächsten Kommunalwahl in zwei Jahren deutlich verändern. Wer nicht die Bevölkerung im Blick hat und weiter dazu beiträgt, dass die Insel ausgebeutet wird, muss das zu spüren bekommen. Da werden wir uns deutlich engagieren.
Wir wollen gesamtinsular Bürgerbeteiligung einführen. Im Sinne von definierten Bürgerräten.
Unser politisches System braucht Verbesserung und Weiterentwicklung, um die Vertreter des parlamentarischen Systems zu unterstützen. Es sind große Probleme zu lösen, schwere Entscheidungen zu treffen, um endlich machbare Auswege aus unserer insularen Krise zu schaffen. Sylter müssen gern, gut und ausreichend auf Ihrer Insel leben können – sonst wird die Tourismuswirtschaft nicht mehr funktionieren, wir stehen am Scheideweg. Es braucht in Zukunft Bekenntnisse zu Grenzen der Kapazität und zu Schwerpunkten.
Politik muss kreativer werden und dann auch Entscheidungen treffen, die von der Bevölkerung mitgetragen werden! Es fehlt an Kommunikation und Transparenz.
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Frage: Haben Sie eine Idee, warum die Gemeindevertreter/innen und Bürgermeister/innen die anstehenden Probleme nicht wirklich lösen?

Wieda: Die Probleme sind sehr komplex geworden, während man sie jahrelang nicht angepackt hat. Lösungen nicht mehr so leicht zu haben, wie noch vor 30 Jahren. Da hat man es nicht gewollt.
Die wenigsten wissen: vieles wird gar nicht mehr vor Ort entschieden, da sind die Sylter nur Steigbügelhalter für kapitale Mächte, die viel Druck aufbauen. Das ist manchmal wie im schlechten Krimi. Aber leider die Realität.
Machen wir uns nichts vor. Bevor die Verantwortlichen unbequeme Entscheidungen treffen, treffen sie lieber keine. Und schuld sind dann immer andere. Das funktioniert auch hier prima. Was wir auf Sylt erleben, findet als Blaupause auch in der großen Politik statt. Demokratie ist das nicht – da hat sich ein System verselbständigt.
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Frage: Sind die Probleme an den touristischen Hotspots dieses Landes überall dieselben?

Wieda: Ja – nur der Grad der Ausprägung und die spürbaren Folgen unterscheiden sich noch.
Im letzten Jahr habe ich von Venedig über Oberstdorf, Tölzer Land, Starnberger See, Hamburg Langeoog, Norderney, St. Peter Ording, Föhr und Amrum viel gehört. Ich wurde eingeladen, habe mich ausgetauscht.
Man muss leider konstatieren, dass die Sylter Fehlentwicklung schon sehr weit fortgeschritten ist.
Es ist schmerzhaft. Man zeigt mit dem Finger auf uns. Unsere Heimatinsel ist für alle das abschreckende Beispiel. So weit soll es im eigenen Gebiet nicht kommen, heißt es dann. Wenn ich mit Vertretern aus anderen Regionen rede, erinnern mich die Berichte und Einschätzungen an #Sylt vor 25 Jahren. Damals habe ich selbst in der Kommunalpolitik erlebt, dass man die möglichen planerischen und politischen Schritte zum Schutz der Gemeinschaft und Natur – also dem Lebensraum Sylt – schon damals schlicht nicht treffen wollte. Augen zu. Nur keinen Ärger oder lange Diskussionen. Und jetzt müssen wir mit diesen Folgen umgehen.
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Frage: Macht es Ihnen noch Spaß, auf der Insel zu leben?

Wieda: Wie die Menschen im Moment ganz generell mit unserer Heimatinsel umgehen, überschreitet meine Schmerzgrenze definitiv. Es tut mir weh.
Die Bautätigkeit ist ausufernd und zerstörerisch. Und dass ausgerechnet Bund und Land am Investitionsstandort Sylt und damit an unserer Misere noch kräftig mitverdienen, das ist deprimierend. Aber ich habe kein anderes Zuhause. Ich liebe diese Insel. Ich verdanke ihr viel und habe das Gefühl, ihr mein Engagement zu ihrem Erhalt zu schulden.
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Wenn aber das Dorf, das mich großgezogen hat, zunehmend kernsaniert, totalunterkellert und überpflegt leer steht, und meine neuen Nachbarn bei ihrer seltenen Anwesenheit mit dem Porsche oder ihrer Harley Davidson zum Biosupermarkt fahren, dann fühle ich mich fremd und möchte am liebsten weg.
Dieses Gefühl hat nichts mit Neid zu tun, der einem ja gern mal unterstellt wird. Es ist mehr die Trauer um die Abwesenheit von normalem Alltag in lebendiger Nachbarschaft.
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Frage: Was möchten Sie der Welt zurufen?

Wieda: Wir geben unser Zuhause nicht kampflos auf! Wir müssen reden und Entscheidungen treffen!