Merret macht den Faktencheck:
Im Briefkasten ist was los. Der Infoflyer der Sylter Wirtschaftsverbände wurde inselweit verschickt und ist mit Schockbotschaften gespickt.
(Hier als pdf zu lesen: Flyer-Nutzungskontrollen-Final)
„Jeder Vermieter ist bedroht“, „Jeder zweite Betrieb ist gefährdet“, „Jeder Sylter hat Nachteile“… Das alles garniert mit Ausrufezeichen, optischen Warnschildern und Brachialkommunikation. Ein Jahr nach Beginn der Nutzungskontrollen durch die Kreisbaubehörde gehen die Sylter Wirtschaftsverbände in die Offensive und starten auch eine Kampagne im Internet.
Verantwortlich zeichnen der Verein Sylter Unternehmer, der Hotel- und Gaststättenverband Sylt und der Sylt Tourismus Verband. Sie fahren schwere Geschütze auf.
„Es droht die Entstehung von Rolladensiedlungen durch Leerstand“, „Verlust von Infrastruktur, zum Beispiel Krankenhaus, Kindergarten, Feuerwehr, ÖPNV“, „Soziale Spaltung durch Unfrieden, zum Beispiel durch Denunziation“, „Arbeitsplätze sind bedroht“…
Der Infoflyer vermittelt den Eindruck: Sylt ist auf direktem Weg in den Ruin.
Nicht als Panikmacher, sondern als „Impulsgeber“ will man sich verstanden wissen. Doch kein Impuls, sondern eine deutliche Drohung steht im Zentrum der Aktion des Vereins Sylter Unternehmer: Sollte die Kreisverwaltung weiterhin aktuelles Recht auf der Insel durchsetzen, drohen „Verlust von Eigentum, Wertverlust von Immobilien, Verlust der Altersvorsorge, zukünftige Finanzierungsprobleme durch Neubewertung der Immobilien.“
Diese und andere steile Thesen stellt der Flyer in den Raum – ganz ohne Belege. Im Internet wird es dann ausführlicher, aber nicht unbedingt richtiger (https://www.sylterunternehmer.de/immo/).
Sind all die Behauptungen der Sylter Geschäftswelt gerechtfertigt?
Merret macht den Faktencheck.
Die SU sagen: Über Jahrzehnte wurde bei Objekten nicht zwischen Dauerwohnen, Zweitwohnen, Ferienwohnen unterschieden. Erst später hätten Gerichtsurteile festgelegt, dass eine genaue Unterscheidung erforderlich sei. „Spätestens an dieser Stelle wäre es dringend notwendig gewesen, für unsere ausschließlich vom Tourismus lebende Destination nach baurechtlichen Lösungsmöglichkeiten für die Altbestände zu suchen.“
Merret sagt: Das ist doch geschehen. Die Verwaltung der Gemeinde Sylt hat die Gemeindevertreter und Verbände über Jahre mehrfach nachweislich auf die aktualisierte Baunutzungsverordnung und ihre Folgen für Sylt – und die Altbestände – hingewiesen. Das geht aus Sitzungsprotokollen hervor. Die Verwaltung entwickelte sogar einen neuen beispielhaften Bebauungsplan. Dieser jedoch verschwand in der Versenkung, nachdem er von der CDU im Bauausschuss mehrheitlich abgelehnt worden war. Zudem hat der stv. Vorsitzende der Sylter Unternehmer, Carsten Kerkamm, sogar persönlich an der Ausarbeitung der bundesweiten Gesetzesnovelle mitgewirkt (https://tinyurl.com/ydtdruvf). Auftraggeber war 2016 das Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung in Vertretung der Bundesregierung. Carsten Kerkamm war aktiver Teil des Beratungsgremiums für das neue Bundesgesetz. Sylt wurde damals explizit ausgewählt wegen der enormen Bautätigkeit auf begrenztem Raum. Kerkamm wusste also bereits seit Jahren, was auf Sylt zukommen würde.
Wenn die SU auf ihrer Internetseite in einer früheren Fassung schreiben: „Man hat es schlichtweg nicht anders gewusst und keine der Behörden hat dieser Entwicklung entgegengewirkt oder zur Aufklärung beigetragen“, entspricht das nicht der Wahrheit. Im Gegenteil. Man muss stattdessen fragen: warum haben CDU und SU wissentlich die Gesetzeslage missachtet und die Hände in den Schoß gelegt?
Die SU sagen: „Die Insel Sylt ist der Jobmotor für Nordfriesland, was allein auch die hohe Anzahl an täglich 5.000 einpendelnden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern belegt.“ Ein wirtschaftlicher Rückgang durch Bettenreduzierung würde auch das Festland treffen.
Merret sagt: Stimmt. Sylt ist ein starker Jobmotor – auch fürs Festland. Doch auch dort wird inzwischen kräftig nach Personal gesucht und mittlerweile sehr gut bezahlt. Die 5.000 Sylt-Pendler machen deutlich, wie abhängig Sylt vom Festland ist. 5.000 Sylt-Pendler sind Ausdruck und Merkmal eines aus den Fugen geratenen Gleichgewichts zwischen Wohnen und Arbeiten. 5.000 Pendler bringen kein Geld nach Sylt. Im Gegenteil. Sie ziehen es ab, nehmen es mit aufs Festland und beweisen nur eins, dass die „Sylter Wirtschaft“ zusammenklappt, wenn die Bahn nicht fährt. Ohne Dauerwohnungen ist das eine Abwärtsspirale.
Die SU sagen: „Die Frage, wieviel Dauerwohnraum aktuell und perspektivisch benötigt wird, kann mangels konkreter Daten nicht abschließend beantwortet werden.“
Merret sagt: Falsch. Konkrete Zahlen liegen seit langem vor. Das KLM beschäftigt sich mit nichts anderem. Laut Wohnraumentwicklungskonzept fehlen auf Sylt 2.300 Dauerwohnungen (bis 2027). Jedes Jahr werden 100 Dauerwohnungen auf der Insel umgewandelt.
Die SU sagen: Auf Sylt könne man sich eine Immobilie nur leisten, „wenn außergewöhnlich gut verdient wird oder ein guter Vermögenshintergrund (Eltern) gegeben ist.“ Daher mache es keinen Sinn, Dauerwohnen in Bebauungsplänen festzuschreiben, weil es „für die hier lebende Bevölkerung aufgrund fehlender Finanzierungsmöglichkeit überwiegend nicht möglich sein wird, diesen zu finanzieren oder die hierfür erforderlichen Mieten zu erbringen.“
Merret sagt: Die Inselbewohner werden hier als kapitalschwaches Dienstleistungsgeschwader dargestellt, das sich die eigene Insel nicht mehr leisten kann. Das ist zynisch und zeigt nur eins, dass die Sylter Unternehmer den Wohnungsmarkt auf der Insel längst aufgegeben haben. Dauerwohnen kann und muss festgeschrieben werden, wenn weiterhin Menschen dauerhaft auf der Insel leben sollen. Dass sich Normalverdiener keine Immobilien auf Sylt leisten können, heißt doch nicht, dass sie kein Recht auf eine anständige Wohnung haben. Dauerwohnen heißt vor allem Miete und bedeutet: Nachbarschaft. Sozialleben. Kinder und Schulen. Dauerwohnen heißt menschenwürdige, bezahlbare Unterbringung für dringend benötigtes, qualifiziertes Personal, das die Insel an allen Ecken und Kanten braucht.
Die SU sagen: „Die geltenden Mieterschutzgesetze werden viele Immobilieneigentümer davon abhalten, ihre [Ferien-]Objekte in die Dauervermietung zu geben.“
Merret sagt: Haltlose Behauptung. Es gibt genügend Gegenbeispiele für Festvermietungen von Ferienunterkünften. Und es werden immer mehr.
Die SU sagen: „Viele der [Ferien-]Objekte sind aufgrund ihres Zuschnitts für Dauerwohnen ungeeignet.“
Merret sagt: Umgekehrt ist es richtig. Es gibt auf Sylt deutlich mehr Dauerwohnungen, die aufgrund ihres Zuschnitts (Keller und Dachböden) für die Ferienvermietung ungeeignet sind. Selbstverständlich passen Dauermieter auch in Ferienwohnungen, in deren Gärten und auf deren Terrassen.
Die SU sagen: „Daher ist ein intensiver Austausch zwischen Politik, Wirtschaft und insularen Fachleuten erforderlich, um ein grundlegendes Gesamtbild zu erhalten.“
Merret sagt: Augenwischerei. Das „grundlegende Gesamtbild“, das die Sylter Unternehmer hier einfordern, liegt längst auf dem Tisch. Es gibt gültige politische Beschlüsse, belastbare Gutachten und eine eindeutige Rechtslage. Das gilt es zu akzeptieren und zu respektieren. Jetzt ist der Moment für die Sylter Wirtschaftsverbände, sich daran anzupassen und diese nicht weiter zu torpedieren. Es geht vorwärts und nicht rückwärts. Und warum soll der Austausch nur zwischen „Politik, Wirtschaft und insularen Fachleuten“ stattfinden? Soll das ewig so weitergehen? Diese Allianz hat Sylt doch erst in diese prekäre Lage gebracht.
Die SU sagen: „Wir würden uns genau diesen Dialog wünschen! Frei von Vorurteilen und offen im Miteinander!“
Merret sagt: Ist das ein Gesprächsangebot? „Die Botschaft hör ich wohl. Allein mir fehlt der Glaube.“ (Goethe) Ist das Dialogangebot wirklich ernst gemeint? Die Sozialverbände, die Sylter Kulturvereine, Umweltverbände, Kirchenvertreter, gemeinnützige Organisationen, Initiativen, die Jugend, der Seniorenbeirat – und auch Merret – würden sich freuen.
Fazit: Es ist vollkommen legitim und üblich, dass Wirtschaftsverbände ihre Interessen offenlegen und nachdrücklich vertreten. Doch die aktuelle Infokampagne der Sylter Geschäftsleute hält einem Faktencheck nicht stand. Die Idee ist gut. Sie ist wichtig und richtig. Aber die Kampagne zielt einzig und allein darauf ab, das professionalisierte Schwungrad aus Immobilienhandel, Ferienvermietung und Touristendurchschleusung nicht anhalten zu müssen.
Um die Sylter Einwohner sorgt man sich nur, sofern sie zu den Immobilienbesitzern gehören. „Offen im Miteinander“? Darüber würden sich viele Insulaner und Insulanerinnen tatsächlich freuen. Man sollte die Wirtschaftsverbände beim Wort nehmen, damit sie tatsächlich einen offenen Dialog organisieren, wo die Antworten nicht schon von vornherein feststehen.
Merret setzt sich seit langem dafür ein, dass von der Politik ein Bürgerrat eingerichtet wird, ein faires, repräsentatives und konzeptionell erprobtes Partizipationsmodell, das Lösungswege erarbeitet.
Denn, wie die Sylter Wirtschaft so treffend formuliert: „Wir sitzen alle in einem Boot.“ (Aber die einen angeln, die anderen rudern.)
Wie funktioniert ein Bürgerrat?